Für Luise hinterlässt ihr Tod einen „ziehenden Schmerz“, ein „zugiges Loch“: „Die Alltagssoyara, die praktische Soraya, die mutige Soraya, die Kopfwehsoraya, die Motorradsoraya, die schnell sprechende Soraya, die radikale Soraya, die lachende Soraya, die müde Soraya“, sie fehlt ihr sehr. AUFPRALL ist somit mehr als ein Denkmal für eine nicht mehr existente Stadt, in der alles und nichts möglich war. Es ist auch ein Denkmal für die reale Person hinter der Figur So-raya. Und ein Porträt einer Generation, die an die Kraft des Kol-lektivs geglaubt hat und die bis heute von diesen Erfahrungen profitiert.
Ute Cohen: Luises Zeichnungen sind „wie PunkTöne und PogoTanzen“. Furcht und Distanz gibt es nicht. Herrscht heute nicht das Gegenteil vor und wie zeigt sich das in der Kunst?
Munk: In der Kunst zeigt sich das, indem man sich in der Praxis immer an Themen und Linien abarbeitet. Das war damals sehr viel freier. Es gab zwar eine große Ratlosigkeit, aber auch eine große Kreativität. In Berlin landete man im „Laden für nichts“, wo nie eine Preisliste auslag, während man im Rheinland sehr viel mehr auf den finanziellen Erfolg hinarbeitete.
Wieland: Das Leben knallte an einen heran. Die Zeichnungen im Buch stammen aus einer politisierten Zeit, nach der man sich heute sehnt. Das ist natürlich keine Politkunst, aber gezeigt wird eine Gruppe, in der die Kunst im Leben passierte. Das Kollaborative war nicht Programm, sondern Wirklichkeit. Das haben wir mit der geteilten Autorschaft des Romans fortgeführt.
Bude: Die Kunst will heute kritische Praxis stiften. Die Kunst, die Luise machte, war aus der kritischen Praxis entstanden.
Aber es geht nicht nur ums Besetzen, sondern auch um die Aneignung und das Ausprobieren linker Theorie. Die Literatur- und Verlagsinteressierten können in der nebenbei erzählten Geschichte des 1970 gegründeten Merve – Verlags schwelgen, der zunächst im Heftformat unter anderem viele operaistische Texte aus Italien veröffentlichte und ab Ende der 70er Jahre heutige Klassiker poststrukturalistischer Denker herausbrachte.
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Insofern hat der Pflasterstein auf dem Cover zwar ikonografischen Charakter, um die Radikalität der damit verbundenen politischen Ambitionen zu unterstreichen. Das Buch zeigt anhand der Akteure und ihrer Geschichte mit den Möglichkeiten aber auch die Grenzen auf, mit den Erfolgen auch die Niederlagen dieser Kämpfe.
Berliner Zeitung Feuilleton am 7. Oktober 2020 von Harry Nutt
Bude: Wir haben nicht Satz für Satz gemeinsam geschrieben. Das Buch ist durchaus auch in der jeweiligen Einsamkeit am Schreibtisch entstanden. Beim kritischen Zusammenfügen sind wir sehr vorsichtig miteinander umgegangen. Wir haben uns viel Raum gegeben und nach Berührungspunkten gesucht. Das war übrigens auch ein Teil des Experiments, das aus der im Buch beschriebenen Lebensform hervorgegangen ist, einer Mischung von Kunst, Alltag und Theorie.
Munk: Man darf nicht vergessen, dass es eine sehr bilderlose Zeit war. Man hatte als Künstlerin eine große Freiheit, selbst etwas zu entwickeln. Die Filme, die wir machten, waren radikal und anarchistisch. Es gab keine Ästhetik, an der man sich wie heute über YouTube entlanghangeln konnte.
Wieland: Wenn etwas mit der heutigen Situation vergleichbar ist, dann ist es die Erfahrung, dass es keine rationale Handhabe, keine Bedienungsanleitung gibt. Bei Tschernobyl war man sich selbst überlassen. Die Einzelnen wussten nichts und die Regierungen wussten auch nichts. Katastrophenbewusstsein kann man nicht lernen.
im Tagesspiegel Kultur am 7. Oktober 2020 von Gerrit Bartels
Natürlich bleibt es nicht aus, das in dem Gespräch mit den dreien die konkrete, erlebte Vergangenheit gestreift wird, die fiktiven Grenzen und das Faktische verschwimmen. Bude, Munk und Wieland erinnern sich an „harte“ Absturzläden wie das Ex’n’Pop oder das Risiko, an den „irgendwie überflüssigen“ Dschungel, an einen Lieblingsladen wie den Bierhimmel
Oder an das Andere Ufer in Schöneberg, „das eigene Vertrauen, die eigene Stärke, die man darin hatte“, wie Bude sagt. „Wenn da eine Nina Hagen hereinkam oder irgendein ein anderer Szene-Prominenter – Bowie habe ich da übrigens nie gesehen –, dann sagte man sich: Das kann ich auch!“
Karin Wieland wiederum weist darauf hin, dass dieses West-Berlin nicht zuletzt kaum zu verstehen gewesen sei ohne die prägenden intellektuellen Figuren jener Zeit: den Religionssoziologen und Philosophen Jacob Taubes, den an der FU lehrenden Philosophen Klaus Heinrich, den Besitzer der Heinrich-Heine-Buchhandlung im Bahnhof Zoo Hans Brockmann oder die Welt des Merve Verlags und seiner Gründer Peter Gente und Heidi Paris.
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Auch der weibliche Chor erlaubt eine präzisere Perspektive auf die alles andere als ausgeglichenen Geschlechterverhältnisse jener Zeit. Wie überhaupt Kreuzberg was enorm Widersprüchliches hatte: hier eine kleine, letztendlich auch provinzielle Welt. Und dort, wie Bettina Munk sich erinnert: „Man konnte alles machen, was in dieser Offenheit nirgendwo anders möglich war.“
Der Roman legt nahe, dass sich in der Hausbesetzerszene (die Autoren eingeschlossen) die besten Köpfe ihrer Generation getroffen haben, jedenfalls Leute, die Risiken eingehen, und die für ihre Risikobereitschaft auf Dauer lohnendere Ziele entdecken als die Säuberung leer stehender Häuser von Taubenkot.
Die Generation Aufprall lebt von der Vorstellung, Avantgarde zu sein. Dazu gehört die falsche und im Roman kritisierte These, der Rest der Welt sei irgendwie rückständig und werde sich ohne die vorauseilende Kreuzberger Militanz nicht entwickeln. Man bleibt in diesem Milieu gerne unter sich. Aus Westdeutschland ist man geflohen, Ostberlin und die DDR existieren lange fast gar nicht, und auch der Rest der Welt tut sich erst auf, als irgendwann Flüge aus Schönefeld zu exotischen Destinationen führen. Dieser Generationenroman weist eine hohe Ortsspezifik auf. So wie es in Westberlin war, war es nicht in Frankfurt, Hamburg oder Düsseldorf, von Ostberlin ganz zu schweigen. Länger als anderswo hält sich in der „Frontstadt“ der Mythos vom politischen Widerstand. Kein „Lifestyle“ weit und breit, und auch das Wort „Gentrifizierung“ kennt man nicht. Weil aber die Berliner Wohnungsfrage bis heute unbeantwortet ist, sind die Motive des damaligen Aufruhrs bis heute nicht obsolet geworden.