Ein langer Spaziergang in der Vorweihnachtszeit mit Ralph Bollmann – Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, von Kreuzberg nach Schöneberg und zurück, von der O-Bar zum Merve Verlag entlang all der Points of Interest, vom Kulturbüro Kreuzberg bis zum Risiko.
Sie stammen aus der westdeutschen Provinz und landen in den besetzten Häusern Kreuzbergs, wobei es ihnen bald weniger um „verfehlte Wohnungspolitik, sondern um ein Lebensgefühl“ geht. Sie haben genug von der „Besserwisserei der Achtundsechziger- Generation“, suchen „das gelebte Experiment mit offenem Ausgang“. Davon erzählt dieses mitreißende Buch
BERLIN „1981 war sie 21, und das Jahr war kobaltblau.“ Ein Satz wie eine einzige Verheißung von Jugend und Aufbruch.
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Luise ist die junge Frau, die Overall trägt, Zigarillos raucht und Arno Schmidt liest. Die Studentin kommt aus Heidelberg, taucht ein in die Szene der Hausbesetzer in Berlin-Kreuzberg. Sie weiß noch nicht, wie dramatisch sich ihr Leben kurz darauf verändern wird, aber es steht stellvertretend für die Altersgruppe der Boomer und ihre Jugend in den Achtzigern zwischen Punk und Aids, Clubkultur und dem Kult um Intellektuelle wie Paul Virilio und Jacques Derrida. Was war ihre Mission? Wie haben sie Deutschland verändert? AUFPRALL erzählt davon.
Anja Osswald über AUFPRALL auf der Website WONGCHOY ALWAYS am 30. Oktober 2020
So, here we are. Wo auch immer das ist. Mit oder ohne Bar, Bild oder Band – eins ist auf jeden Fall klar, liebe Berlinerinnen, liebe Babyboomer: das ist euer Buch!
Und allen weiteren X,Y und Z-Generationen sei AUFPRALL ebenfalls wärmstens empfohlen – schon allein wegen der ganz analogen Wucht der Geschichte.
West-Berlin war damals Front-Stadt – in jeder Hinsicht. Die Konflikte lagen offen.
MUNK Das dritte Haus liegt an der Mauer. Die Besetzer laufen immer auf die Mauer zu. Das ist ein Gefühl, das klärt und hart macht. BUDE Es war ein zum Abriss bestimmter Stadtteil. Wir kannten ja die Pläne von der Autobahn, die da durchgehen sollte. Die Arbeiter sind ins Märkische Viertel vertrieben worden. Was blieb übrig? Die Türken und wir.
Als was fühlten Sie sich selbst damals eigentlich? Als Avantgarde?
MUNK Man fühlte sich selbst wie eine Figur in einem großen Theaterstück. Wie jemand, der sofort etwas schaffen könnte. WIELAND Und es würde gelingen. Wenn David Bowie im Anderen Ufer saß, hat man natürlich geguckt. Aber nicht gedacht: Wie komme ich an den ran? Bowie hatte es schon weiter gebracht, aber man glaubte daran, man würde auch seinen Punkt machen. Es gab ein großes Vertrauen in die Zukunft.
Aber Ihre Parole hieß doch „No future“.
WIELAND No future hieß ja: Die Vergangenheit ignorieren wir, und die Gegenwart nehmen wir uns jetzt. No future war positiv! Die Besetzerinnen in AUFPRALL wollen, dass Kunst, Leben und Intellekt zusammengehen.
Der Unfall wirft aber niemanden aus der Bahn, weil es gar keine Bahn gibt, aus der diese jungen Leute geworfen werden könnten. Berlin ist noch lange keine durchgentrifizierte Partystadt, aber auch keine gemütliche Kiezgegend mehr, sondern erscheint als eine graue, kalte und harte Stadt voller Möglichkeiten, in denen die Holzbretter aus den Treppenhäusern verfeuert werden und der Hedonismus noch in den Kinderschuhen steckt.
Das Buch erzählt ohne Sentimentalität, mit dem richtigen Maß an Szenejargon und mit nicht zu viel Pathos davon, dass es Zeiten gab, in denen Teile einer vom Kreuzberger Mikroklima beeinflussten Generation alles infrage stellten und viel aufs Spiel setzten. Statt Familien zu gründen, zelebrierte man den aus dem wilden, französischen Denken importierten „Kult des Verrücktseins“. Genährt wurde der Kampf um das Anderssein und dabei Rechthaben mit radikalen Experimenten wie der weitgehenden Zurückweisung von Privatheit und der Dauerkonfrontation mit ideologischen Verbohrtheiten.
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Mit dem Merve-Bändchen über das intensive Leben in der Lederjacke konnte man sich eine Zeitlang als genialer Dilettant fühlen, der gefährliche Denker liest und gefährlich lebt. AUFPRALL zeigt, dass es ein solches Leben zwischen Chaostagen und Mervenächten tatsächlich gab.
Es brauchte aber, und das ist ein wesentlicher Unterschied zu den aufmerksamkeitssüchtigen Social-Media-Aktivitäten von heute, keine Dritten, der dem Experiment im real existierenden Leben Applaus spendete. Man machte einfach. Und am Ende dieses Wegs der Deleuze’schen Eier ohne Sinn und Ziel machten sich manche wie Vroni, eine Arbeitertochter aus Wien, einfach kaputt. Sie stirbt, nachdem sie im „Türkenpuff“ anschaffen ging, an einer damals neuen Krankheit namens Aids. Knapp vor ihrem Tod wünscht sie sich Heurigenlieder von denen, die für sie da waren oder einfach da waren. Für immer Punk eben.
Wie Bude, Munk und Wieland die Stimmung der frühen achtziger Jahre heraufbeschwören, hat den Sog des unwiederbringlichen Ausnahmezustands. Es ist alles dabei: von Diskussionen, ob man das Haus eines jüdischen Spekulanten besetzen darf, über den Schrecken von Tschernobyl bis hin zu Lebensstilexperimenten rund um die Themen Liebe, Sex, Familie („Wir mussten das Kunststück vollbringen, vollkommen desillusioniert über die Liebe zu denken, ohne sie überhaupt erlebt zu haben“). Das Autorenkollektiv berichtet aus einer Zeit produktiver und unproduktiver Unruhe, von der es oft heißt, wer wirklich dabei gewesen sei, könne sich nicht mehr daran erinnern. Von wegen!
Für Luise hinterlässt ihr Tod einen „ziehenden Schmerz“, ein „zugiges Loch“: „Die Alltagssoyara, die praktische Soraya, die mutige Soraya, die Kopfwehsoraya, die Motorradsoraya, die schnell sprechende Soraya, die radikale Soraya, die lachende Soraya, die müde Soraya“, sie fehlt ihr sehr. AUFPRALL ist somit mehr als ein Denkmal für eine nicht mehr existente Stadt, in der alles und nichts möglich war. Es ist auch ein Denkmal für die reale Person hinter der Figur So-raya. Und ein Porträt einer Generation, die an die Kraft des Kol-lektivs geglaubt hat und die bis heute von diesen Erfahrungen profitiert.
Ute Cohen: Luises Zeichnungen sind „wie PunkTöne und PogoTanzen“. Furcht und Distanz gibt es nicht. Herrscht heute nicht das Gegenteil vor und wie zeigt sich das in der Kunst?
Munk: In der Kunst zeigt sich das, indem man sich in der Praxis immer an Themen und Linien abarbeitet. Das war damals sehr viel freier. Es gab zwar eine große Ratlosigkeit, aber auch eine große Kreativität. In Berlin landete man im „Laden für nichts“, wo nie eine Preisliste auslag, während man im Rheinland sehr viel mehr auf den finanziellen Erfolg hinarbeitete.
Wieland: Das Leben knallte an einen heran. Die Zeichnungen im Buch stammen aus einer politisierten Zeit, nach der man sich heute sehnt. Das ist natürlich keine Politkunst, aber gezeigt wird eine Gruppe, in der die Kunst im Leben passierte. Das Kollaborative war nicht Programm, sondern Wirklichkeit. Das haben wir mit der geteilten Autorschaft des Romans fortgeführt.
Bude: Die Kunst will heute kritische Praxis stiften. Die Kunst, die Luise machte, war aus der kritischen Praxis entstanden.